CD-Kritiken zu "The Incident":
Eclipsed Nr. 114 (10/2009):
Steven Wilson gewaltiger Ausstoß an hochklassiger Musik ist nach wie vor verblüffend. Hat man gerade eben mal
sein letztjähriges Soloalbum "Insurgentes" in Gänze erfasst und verdaut, da schüttelt das begnadete britische
Multitalent mit seiner Hauptband Porcupine Tree scheinbar mühelos schon das nächste Meisterwerk aus dem
Ärmel. "The Incident", das im Kern aus den 55 Minuten des 14-teiligen Songzyklus "The Incident" besteht, ist
dabei nicht weniger als eine Synthese aus nahezu allen Schaffensperioden der Band. Es geht aber in vielen
Momenten mit souveräner Selbstverständlichkeit auch darüber hinaus. Es ist vor allem eine Rückbesinnung auf
die psychedelische Frühphase der Band, verbunden mit der Eingängigkeit von "Stupid Dream" und "Lightbulb Sun"
("I Drive The Hearse", "The Seance", "Kneel And Disconnect"). Der Härtegrad von "Deadwing" und vor allem von
"Fear Of A Blank Planet" wurde deutlich zurückgeschraubt, schimmert aber in Ansätzen immer noch durch
("Octane Twisted"). Ein paar Soundscape-dominierte Momente lassen gar Vergleiche mit "Insurgentes" zu
("Circle Of Maniacs", "The Incident"). Das zwölfminütige höchst sentimentale "Time Flies" ist als großes
Ausrufezeichen schlicht und ergreifend einer der besten PT-Songs ever.
Doch Vorsicht: "The Incident" ist ganz sicher nicht Porcupine Trees eingängigstes Album. Im Gegenteil: Wie
kaum ein anderer Longplayer der Gruppe bedarf es einiger Durchläufe, bevor sich die ganze Klasse (Titeltrack!)
erschließt. Zwischendurch empfiehlt sich deshalb immer wieder ein Abstecher zu den vier Songs der zweiten CD.
"Flicker", "Bonnie The Cat", "Black Dahlia" und "Remember Me Lover", die in einer separaten Kompositions-Session
das Licht der Welt erblickten, sind nämlich wesentlich einfacher zu (be-)greifen und klingen im Vergleich zum
Brocken "The Incident" geradezu flauschig und eindeutig. Was allerdings nicht bedeuten soll, dass sie deshalb
weniger gehaltvoll wären.
"The Incident" ist mit großer Sicherheit das facettenreichste, zugleich aber auch das sperrigste PT-Album
aller Zeiten. Vielleicht kann es sogar für die große Versöhnung zwischen alten und neuen Fans sorgen.
Ganz sicher aber ist es ein aussichtsreicher Anwärter auf den Titel "Album des Jahres"!
Stimmen zur Platte:
Am Anfang stand eine Klientel-Band. Heute ist sie für alle da. Für alle? OK, Vertreter des reinen
Wohlklangflügels ziehen sich ebenso zurück wie die 20-Songs-in-40-Minuten-Fraktion. Der große Rest bestaunt
großes Songwriting, das perfekte Zusammenspiel von Steven Wilson & Co, einen Sog, dem man nicht entrinnen
kann. Zusammen mit einer Produktion, die ihresgleichen sucht, das Beste seit "In Absentia".
"The Incident" ist die Bestandsaufnahme von Wilsons bisherigem Schaffen. Das Titelstück schlägt den Bogen
von schnörkellosem Rock über komplexen Prog bis zu floydigen Soundscapes. Auch der Rest ist abwechslungsreich
wie selten, einige Stücke brauchen allerdings mehrere Durchläufe für ihre Prachtentfaltung. Vielseitiger
jedenfalls klang die Band nie.
Wären alle Teile der Titel gebenden Songgirlande so spritzig und eingängig wie 'Drawing The Line',
"The Incident" wäre eine Platte zum augenblicklichen Abfeiern und Gernhaben. Stattdessen sinkt man nach einer
Stunde ermattet zurück aufs Kanapee und fragt sich: 'Was in Gottes Namen hab ich da eigentlich gerade gehört?'
Dieses Album lässt sich nicht einfach so weghören, es will erkämpft sein. In seiner Stärke liegt zugleich
auch seine Gefahr, denn angesichts dieser Komplexität könnte man vorschnell ans Aufgeben denken. Porcupine
Tree haben ihren Frieden mit ihrer eigenen Geschichte gemacht und schauen selbstbewusst nach vorn.
Ist "The Incident" das Album, das alle Porcupine Tree-Fans miteinander versöhnt? Das Zeug dazu hat es,
vereinigt es doch die Errungenschaften der letzten drei Alben und reicht zugleich den Anhängern von "Signify"
oder "Stupid Dream" die Hand. Und das - das größte Verdienst - ohne den Blick zurück, sondern klar nach vorn
zu richten.
Progressive Newsletter Nr. 67 (12/2009):
Was gab es im Vorfeld der Veröffentlichung von "The Incident" für widersprüchliche Aussagen bzgl. des Inhalts
und der musikalischen Ausrichtung. Von weniger Härte, dem Weglassen der metallischen Gitarren der Vorgänger
war die Rede, die erste CD sollte als Konzeptwerk eine Rückkehr zum früheren Sound von Porcupine Tree beinhalten
und dennoch war von einem Neubeginn für die Band nach dem 2007er "Fear Of A Blank Planet" die Rede.
Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen. Denn weder sind die harten Gitarrenriffs vollständig
verschwunden, noch bekommt man hier den atmosphärischen Psychedelic Ansatz der Frühwerke "The Sky Moves Sideways"
oder "Up The Downstair" geboten. Trotzdem ist der Ansatz der losen Songsammlung, die man auf CD1 zu hören bekommt,
sehr vielschichtig und abwechslungsreich gewählt. Dafür erreichen die Songs auf CD2 keineswegs die Dichte und
Klasse, die man von Porcupine Tree erwarten kann und darf.
In gewisser Weise müssen sich Porcupine Tree immer auch mit ihrer eigenen Vergangenheit messen. Wäre dies
das Album eines Newcomers, so fiel die Zustimmung und Bewunderung bestimmt anders aus, als angesichts der
musikalischen Vorgeschichte der Briten. Die Mannen um Steven Wilson bieten die bekannten Versatzstücke,
ein paar melancholische Momente hier, ein paar Soundcollagen da, dazu noch die inzwischen perfektionierten
Songschreiberqualitäten mit griffigen, aber niemals belanglosen Melodielinien. Doch hat man dies eben schon
um ein paar Spuren packender auf den Vorgängeralben gehört. "The Incident" wirkt so mehr wie ein
Flickenteppich an guten, aber nur stellenweise genialen Ideen. Das, was besonders auf dem Überwerk
"In Absentia" perfekt harmonierte, ist hier nur in Ansätzen zu finden. Natürlich ist dies immer noch Kritik
auf sehr hohem Niveau, denn die Qualität stimmt, das spielerische Verständnis der Band von der Insel ist
kompakt und auf den Punkt gebracht, doch hat man die Messlatte durch andere Alben eben sehr hoch gelegt.
"The Incident" stößt die Porcupine Tree Fans nicht vor den Kopf, doch hätte man sicherlich etwas mehr
erwartet, auch aufgrund der wohlklingenden, euphorischen Ankündigungen im Vorfeld. Aber wer den Tatendrang
von Steven Wilson und vor allem die interessanten Ansätze auf seinem Soloalbum "Insurgentes" noch im Ohr
hat, dem wird gewiss sein, dass dies garantiert nichts das letzte Statement gewesen ist.
Rock Hard Nr. 269 (10/2009):
"Ich wollte mit PORCUPINE TREE diesmal klassischer zu Werke gehen. Wir sind wieder näher am Progressive
Rock als am Metal", meint Steven Wilson - und hat damit durchaus Recht. Zwar bewegen sich die Engländer
mit ihrer neuen Doppel-CD "The Incident" (der erste Silberling enthält einen in 14 einzelne Songs unterteilten
Longtrack, der zweite vier weitere Stücke mit "Normal-Länge") nicht komplett zurück in die eigene Vergangenheit
(was einen visionär denkenden Musiker wie Wilson auch kaum zuzutrauen ist); im Gegensatz zum untypisch harschen,
streckenweise metallischen Vorgänger "Fear Of A Blank Planet" geben 2009 aber wieder sphärische, elegische,
ausufernde Modern-Prog-Versatzstücke die Richtung vor, harte Ausbrüche stellen die (gelungene) Ausnahme dar.
Qualitativ ist "The Incident" vor allem Bewahrer des Status Quo: PORCUPINE TREE sind und bleiben einer der
wichtigsten Bands der heutigen Musikszene und überragen die Konkurrenz um ein Vielfaches. "The Incident" ist
mit seinen zahlreichen Highlights wie dem fast zwölfminütigen 'Time Flies', dem im Refrain überraschend
rockigen 'Drawing The Line', dem wunderbar melancholischen 'I Drive The Hearse' oder dem atmosphärisch extrem
dichten 'Flicker' all das, was viele andere gerne wären: im positiven Sinne erwachsen, reif, variantenreich,
unprätentiös emotional.
Guitar Nr. 113 (10/2009):
Die wichtigste Prog-Rock Band der letzten Jahre überrascht mit ihrem vielseitigsten Album. Das Spacige der
Frühphase trifft auf die düstere Härte der letzten Scheiben, und es braucht einige Durchläufe, bis
der 55-minütige, enorm vielschichtige Titelsong zündet.
Doch dann heißt es nur noch: genießen, genießen, genießen.