Interview mit Steven Wilson - Metal Hammer (04/2005):
Interview mit Steven Wilson - Metal Hammer (04/2005)
Porcupine Tree - Abgelegte Schüchternheit
Mit IN ABSENTIA schafften PORCUPINE TREE den Sprung von Presse- und Musikerlieblingen zur international respektierten
Gruppe. Gute Verkaufszahlen und volle Clubs auf Tour waren die Folge, und DEADWING wird die Briten weiter nach vorne
bringen.
Sänger, Song-Schreiber, Produzent, Superhirn und Gitarrist Steven Wilson liefern seit Jahren einzigartige Alben
wie THE SKY MOVES SIDEWAYS, SIGNIFY, STUPID DREAM, LIGHTBULB SUN oder IN ABSENTIA ab. Musikalisch bewegen sich die
Londoner abseits aller Trampelpfade und besitzen damit das seltene Crossover-Potenzial, mit ihren vor Gefühl,
Atmosphäre, Anspruch, Intensität, Intellekt und Ausstrahlung strotzenden Songs Fans von Art Rock, Progressive Metal,
Psychedelic, Heavy Metal, Gothic oder sogar Pop-Rock in ihren Bann zu ziehen.
Steven, DEADWING wird seit Monaten sehnsüchtig erwartet und erscheint nun mit mehrmonatiger Verspätung. Warum?
Ich bin Perfektionist. Geplant war eine Veröffentlichung im vergangenen September. Es ging darum, ein Album auf
durchweg hohem Niveau zu präsentieren. Lieder sind erst fertig, wenn das sichere Gefühl da ist, dass es nichts mehr
zu ändern gibt, was sie aufwerten würde. Das kann Monate dauern. Ich lasse mich nicht drängen, weil ich es bereuen
würde. Am Anfang des Songwriting-Prozesses werden gesammelte Ideen wie bei einem Puzzle auf diverse Stücke verteilt,
bis sich mehr und mehr die griffigen Strukturen herauskristallisieren. An diesem Punkt dreht sich die Sache, denn
nun inspiriert mich der Song. Er beginnt zu atmen und zu leben. Dieser Moment bereitet mir immer wieder Gänsehaut.
DEADWING könnte für euch ein wegweisendes Werk Richtung ganz nach oben sein. Wie seid ihr mit dem Druck umgegangen?
Den verspüre ich permanent. Das basiert aber nicht auf den Erwartungen des Umfeldes, der Fans oder der
Geschäftspartner, sondern auf meinen eigenen Ansprüchen. Ich möchte hohe Qualität abliefern und mich nicht
wiederholen. Ich liebe IN ABSENTIA und konnte mir kaum vorstellen, dass wir diesen Standard nochmals bringen
können. Kommerziell gerichtete Gedanken habe ich noch nie verschwendet. Es ist das Anfang vom Ende, wenn man sich
von Erwartungen beeinflussen lässt. Ich würde mich nie in meiner kreativen Freiheit einschränken lassen. Kompromisse
mag ich nicht. Die Entstehung von DEADWING war stellenweise frustrierend, da ich in manchen Phasen kaum weitergekommen
bin. Aber wir haben dem Druck standgehalten - und das erfüllt mich mit Stolz.
Die Abwechslung eurer Musik ist bemerkenswert. Es ist sicherlich schwer, die zahlreichen Bestandteile zu einem
harmonischen Album zu verknüpfen.
Ich liebe Extreme, nur darf es nicht außer Kontrolle geraten. Als Band haben wir eine natürliche Entwicklung
durchschritten, dabei einen eigenständigen Stil kreiert, so dass wir heuer kaum mehr über die musikalische Richtung
grübeln müssen. Es passiert automatisch. Es standen 20 Songs zur Auswahl, von denen 14 aufgenommen wurden. Neun davon
landeten auf DEADWING. Einen Tag vor Produktionsende habe ich noch die Reihenfolge geändert und sogar ein Stück
ausgetauscht. Meine Demos sind hochwertig ausgearbeitet, so dass an den Arrangements zumeist nicht mehr gefeilt
werden muss. Die Demo-Passagen werden lediglich durch echte Instrumente ersetzt. Manchmal sind die Lieder jedoch
so embryonisch, dass meine Mitstreiter den Freiraum besitzen, ihren persönlichen Stempel aufzudrücken. 'Lazarus'
ist fast identisch mit der Demo-Version, 'Halo' dagegen das krasse Gegenteil.
Würdest du DEADWING als Konzeptalbum bezeichnen?
Ein Freund drehte bereits Kurzfilme und Werbeclips. Ihm schwebte ein Drehbuch für einen Film vor, suchte aber
nach der passenden Inspiration. Wir setzten uns gemeinsam hin und erarbeiteten eine surreale Geistergeschichte.
Protagonist ist ein Soundtrack-Tüftler, der von Wesen aus dem Jenseits heimgesucht wird. Ich möchte nicht zu viel
verraten, aber beispielsweise verliert der Mann für 30 Minuten sein Gehör. Im Film ist während dieser Zeit ebenfalls
Stille. Es sprechen ausschließlich die Bilder. Es ist schwer, einen Plattenvertrag an Land zu ziehen, aber nahezu
unmöglich, einen Film finanziert zu bekommen. Vielleicht steigen die Chancen, falls DEADWING erfolgreich wird. Alle
Songs auf DEADWING beschreiben spezielle Passage der Geistergeschichte, allerdings nicht chronologisch nacherzählt.
IN ABSENTIA war ein negatives Album über Serienkiller, LIGHTBULB SUN handelte von Trennungen jeglicher Art. DEADWING
ist eher traumhaft und nicht so depressiv ausgerichtet. Die für uns typische Melancholie ist allgegenwärtig. Ich habe
mal gelesen, unsere Musik würde schöne Traurigkeit versprühen. Das gefällt mir.
Wie kam es zu den Gastauftritten von Adrian Belew von King Crimson und Mikael Akerfeldt von Opeth?
Mikael ist ein unglaublicher Gitarrist. Ich liebe seinen gefühlvollen Stil. Der Plan stand schon lange, da wir
Freunde sind. Wir haben den Ruf, dass uns etliche Musiker respektieren. So sind Neil Peart von Rush, Jim Matheos
von Fates Warning, Arjen Lucassen von Ayreon oder Mike Portnoy von Dream Theater Porcupine Tree-Fans. Adrian auch.
Er kontaktete unser Management und fragte, ob er mitwirken kann. Die irren Soli bei 'Deadwing' sowie 'Halo' stammen
von ihm.
Du wirst von den Fans vergöttert und ab und zu sogar als Genie bezeichnet. Gefällt dir das?
Wer hört nicht gerne Lob? Es ist wie ein Geschenk, wenn unsere Musik Menschen berührt Aber ich mag das Wort Genie
nicht. Mozart oder Fank Zappa waren Genies. Ich liebe lediglich Musik und arbeite äußerst hart daran, meine Ideen zu
verwirklichen. Ich fühle mich von unterschiedlichsten Stilen inspiriert, dass es nur natürlich ist, so gut sein zu
wollen, wie die Künstler, die man verehrt. Ich lese keine Kritiken oder Berichte über Porcupine Tree. Ein Künstler
muss in seiner eigenen Welt leben, um sein Potenzial auszuschöpfen.
Porcupine Tree waren anfangs dein Ein-Mann-Projekt. Erst ab THE SKY MOVES SIDEWAYS ist daraus eine Band entstanden.
Ich bin ein miserabler Teamplayer - eigensinnig, starrköpfig und kompromisslos. Colin, Richard und Gavin hassen mich
oft dafür. Manchmal benötige ich aber die ihre Meinung und Inspiration. Sie dürfen sich einbringen, aber ich möchte mir
vorbehalten, ob Ideen akzeptiert werden oder nicht. Allerdings funktioniert Porcupine Tree nur noch als Kollektiv, da
die Verschmelzung diverser Persönlichkeiten faszinierend ist. Andererseits könnte ich niemals nur ein gleichwertiges
Mitglied sein. Das würde mich fertig machen.
Doch in deinen Seitenprojekten No-Man oder Blackfield kooperierst du gleichberechtigt mit Partnern.
Zu zweit geht das eben einfacher.
Außer Blackfield und No-Man hast du I.E.M., Bass Communion und einige weitere Projekte am Start. Warum tust du
dir diesen Stress an?
Womöglich wäre es effektiver, die Energie auf wenige Baustellen zu konzentrieren. Ich bin aber ein Musiker, der
sich rasch langweilt und ständig Herausforderungen sucht. Hätte ich nur mit Porcupine Tree zu tun, würde es die
Band nicht mehr geben.
Du bist überall anerkannt, aber der richtige Durchbruch hat sich trotz positiver Tendenz noch nicht eingestellt.
Es ist schwer, das Publikum zu erreichen. Ich bin überzeugt, dass einige Stücke von früheren Alben zahllose Leute
hätten ansprechen können. Es geht mir nicht um Ruhm oder Geld, sondern um den künstlerischen Aspekt und darum, dass
viele meiner Titel nicht den Verbreitungsgrad besitzen, den sie verdienen. Wenn man Herzblut, Mühe, Opfer und Energie
in eine Produktion steckt und realisieren muss, dass das Potenzial nicht erreicht werden kann, ist es schmerzhaft.
Du besitzt einen breiten Musikgeschmack. Welche Stile hasst du?
Ich hasse konstruierte, kalkulierte Musik. Ich mag Bands, die sich abseits der Normen bewegen, neue Elemente
einbringen und Akzente setzen. Ich hasse New Metal, Alternative, Progressive Rock, Heavy Metal oder alles andere,
wenn die dafür zuständigen Truppen ausschließlich versuchen, den einfachen, konventionellen Weg zu gehen. Und ich
hasse, dass Dünnpfiff wie Mariah Carey, Whitney Houston oder Destiny's Child heutzutage als R&B bezeichnet wird. Die
Rolling Stones sind Rhythm and Blues.
Auf der LIGHTBULB SUN-Tour und im Vorprogramm von Dream Theater hast du einen reservierten, schüchternen
Eindruck hinterlassen. Bei den Konzerten danach gabst du dich als kommunikativer Frontmann, der seine Musik auf
der Bühne auslebt. Wie kommt das?
Es hört sich blöd an, aber mittlerweile spüre ich während der Gigs die emotionale Zuwendung der Fans. Das gibt
mir Kraft. Porcupine Tree entstanden in meinem Schlafzimmer ohne die Intention, jemals live aufzutreten. Ich musste
lernen, mich mit meiner Rolle anzufreunden, obwohl ich ein zurückhaltener Mensch bin.
Wo wir beim Thema Konzerte angelangt sind: Wie trefft ihr die Auswahl für die Setlist? Das Repertoire ist
mittlerweile gigantisch.
Es soll nicht arrogant klingen, aber wir nehmen keine Rücksicht auf die Wünsche der Fans. Primär ist es wichtig,
dass wir uns den Spaß erhalten. Ansonsten könnten wir unsere volle Leistung nicht abrufen, und dies würde zu Lasten
der Besucher gehen. Deshalb diese egoistische Haltung.
Du hast dir durch deine Arbeit für Opeth oder Marillion nebenbei einen ausgezeichneten Ruf als Produzent erkämpft.
Für wen würdest du gerne die Regler schieben?
Nicht unbedingt für meine Lieblings-Bands, sondern für Gruppen, bei denen ich den Eindruck habe, etwas Produktives
beisteuern zu können. Sigur Rós sind zu perfekt, als dass ich helfen könnte. Tool dagegen könnten mehr Farbe und
Tiefe vertragen.
Wie sehen die Pläne nach der Tour mit Anathema aus?
Eine DVD ist fällig. Sie soll ungewöhnlich werden mit Konzertausschnitten, Dokumentation und visuellen Experimenten.